Der Kleine Mann, der Meisterverstecker
Eines Tages spielten alle Kinder im Garten. Der Kleine Mann spielte wieder mit. Am liebsten spielte der, ja, was wohl? Verstecken! Denn das konnte er meisterhaft. Er war ja nicht nur sehr klein und fand deshalb überall ganz leicht Verstecke, er war auch sehr gewitzt und suchte sich Orte, die niemand als Versteck vermuten würde.
Die Kinder wollten natürlich nicht immer das Versteckspiel mitspielen, denn es war für sie nicht so angenehm, dabei so oft Verlierer zu sein. Manchmal spielten sie aber mit, weil sie den Kleinen Mann nicht enttäuschen wollten, wenn er diesen Spielvorschlag machte.
Diesmal aber wollten sie den Kleinen Mann herausfordern. Gerade weil er fast immer gewann, wollten sie dem Kleinen Mann auch mal zeigen, dass sie ganz gute Versteckfinder waren.
Der Kleine Mann war natürlich sofort damit einverstanden, als die Kinder den Vorschlag machten, Verstecken zu spielen. „Ha, ihr wollt wohl gerne verlieren?“ grinste er sie siegesgewiss an. Er hatte ja immer die tollsten Ideen, wohin er sich verstecken konnte, da kamen die niemals drauf.
Jetzt wurde erstmal wie immer gezählt. „Ihr braucht nur bis zwanzig zu zählen, dann ist der unsichtbare Meisterverstecker weg vor euren Augen und ihr findet ihn nicht! Garantiert!“ Ja, man kann sich ganz schön etwas einbilden auf seine Fähigkeit. Mal sehen, ob es diesmal klappt.
Die Kinder waren natürlich ganz heiß darauf, ihn diesmal unbedingt zu finden. Der Kleine Mann sollte mal nicht so auftrumpfen, fanden sie. Sie wollten ihm zeigen, dass es nicht nur einen Meisterverstecker gab, sondern auch Meisterversteckfinder. Und das waren sie! Jetzt galt es, ganz aufmerksam sich auch die ungewöhnlichsten Versteckorte anzusehen.
Im Garten saß der Großvater mit seinem kaputten Bein. Es war aber schon besser geworden. Ein Beinbruch braucht eben seine Zeit, bis wieder alles geheilt ist. Das Wetter war gut, die Sonne schien, da kann man mit seinem Bein ganz gut sitzen und sich das Treiben der Kinder angucken.
Er sah die Kinder herumflitzen. Was spielten die denn bloß? Plötzlich kam der Kleine Mann auf sein Hemd gekrabbelt. „Du, Großvater, ich möchte mich bei dir verstecken! Da finden die Kinder mich nie!“
Der Großvater wunderte sich erst ein wenig, dass ausgerechnet er der Versteckort sein sollte, aber er war natürlich kein Spielverderber. „Wo willst du dich denn bei mir verstecken?“, fragte der den Kleinen Mann. „Ich weiß ein gutes Versteck: Ich klettere in deine Tasche in deinem Hemd, da findet mich niemand!“
Gesagt, getan! Er kletterte in die Hemdentasche beim Großvater. Wie gemütlich es hier war. Und er konnte sogar hinausgucken. Was für ein Spaß, die Kinder herumflitzen zu sehen. Sie suchten ihn überall. Aber dass der Großvater das Versteck sein sollte, das würden sie nie, nie herausfinden. Er freute sich schon darauf, wieder mal der Versteck-Sieger zu sein. Dieses Mal besonders, weil die Kinder den Vorschlag gemacht hatten und sie ihn unbedingt finden wollten. Sollten sie nur suchen, bis sie schwarz wurden.
Jetzt waren die Kinder in den hinteren Teil des Gartens gegangen. Er sah und hörte sie nicht mehr. Ein bisschen langweilig wurde ihm schon. Und weil es warm war und es so lange dauerte, wurde er schließlich müde - und schlief ein. In der Hemdtasche des Großvaters!
Die Kinder waren inzwischen auch müde geworden vom vielen Suchen. Sollten sie aufgeben? Nein, sie wollten diesmal unbedingt gewinnen. Der Kleine Mann sollte doch nicht immer der Sieger sein. Schließlich hatten sie gesagt, dass sie Meisterversteckfinder wären. Das war ja ein bisschen übertrieben, aber sie hatten einen großen Ehrgeiz.
Schließlich wollten sie aber doch aufgeben. Dann musste man einfach laut rufen: „Wir geben auf! Du hast gewonnen! Komm heraus!“ Aber die kleine Freundin sagte: „Nein, nein, noch nicht rufen!“ Sie ging schließlich zu ihrem Opa, der da in seinem Stuhl saß und den Kindern zuguckte. Vielleicht hatte der ja den Kleinen Mann gesehen? Man durfte den Großvater allerdings nicht fragen, das war gegen die Regel.
„Darf ich mich mal auf deinem Schoß ein bisschen ausruhen?“, fragte sie den Opa. „Natürlich, komm her, Kleines!“, sagte der gutmütige Großvater. „So klein bin ich gar nicht!“, meinte sie. Sie setzte sich auf sein Bein, natürlich nicht auf das kranke. Und sie sah dem Großvater ins Gesicht, guckte ein wenig nach rechts und was sah sie da? Das waren doch ganz vertraute Farben! Sie rieb sich die Augen und plötzlich wusste sie: Der Kleine Mann hatte sich dort in der Hemdentasche versteckt!
Schnell lief sie zu ihren Geschwistern: „Pst, ich habe ihn entdeckt, wir haben gewonnen! Aber er schläft. Wir müssen leise sein. Sagt den anderen Bescheid!“ Und dann kamen sie alle, standen um ihren Opa herum und sahen tatsächlich den eingeschlafenen Kleinen Mann, der ein Stückchen aus der Hemdentasche herausguckte. Tja, damit hatte er ja wohl nicht gerechnet, ausgerechnet hier einzuschlafen. Deswegen hatte er sich auch nicht ganz nach unten in die Hemdtasche gepfriemelt. Dann hätte ihn nämlich niemand sehen können. So aber konnte man ihn leicht erkennen. Der Großvater lachte in sich hinein. Was die Kinder mit dem Kleinen Mann alles erlebten!
Auf ein Zeichen fingen alle an zu singen:
Der kleine, kleine Kleine Mann, sich gar nicht gut verstecken kann …
Das Gesicht hättet ihr sehen sollen! Wie der Kleine Mann verschlafen aus der Wäsche guckte! Er wusste erst gar nicht, wo er war und was das zu bedeuten hatte. Aber dann begriff er: Er war eingeschlafen und sie hatten ihn gefunden!
„Ihr habt diesmal gewonnen! Aber nur, weil ich eingeschlafen bin! Ihr Einschlaf-Versteck-Finder!“
„Das ist uns egal“, meinte die kleine Freundin, „wir haben dich gefunden, und es hat Spaß gemacht, dich mal zu besiegen!“
„Und mir hat es Spaß gemacht, endlich mal Ruhe von euch zu haben und mich mal auszuschlafen!“, sagte er.
Na, na, Kleiner Mann, man muss auch verlieren können und den Sieg der anderen dann nicht kleinreden.
Schnell sagte er: „Los, und jetzt spielen wir was anderes. Welchen Vorschlag macht ihr?“
„Auf jeden Fall nicht Wettklettern!“, meinten sie.
Da rief die Mutter zum Essen. Damit waren natürlich alle einverstanden. Und so liefen sie zusammen an den Esstisch. „Na, was habt ihr denn so gespielt?“, fragte die Mutter.
Diesmal hatten die Kinder aber was zu erzählen! Da mussten alle lachen. Und wisst ihr, wer am meisten lachte? Ja, tatsächlich: Der Kleine Mann! Der konnte also doch ganz gut verlieren. Verlieren-Können ist ja viel schwieriger als Gewinnen-Können. Und das wollte der Kleine Mann auch allen beweisen.