Der Kleine Mann als Burgwächter
Eines Tages wollte die Familie in die Stadt fahren. Wollte sie einkaufen? Nein, diesmal wollten sie in die Stadt gehen, um zu gucken. Gucken? Was denn? In den Geschäften nach Kleidung oder Elektrosachen oder so was? Nein, nein. Sie wollten sich die Stadt ansehen, was es da für Besonderheiten gab. Vielleicht die besonderen Häuser, oder anderes von früher.
In dieser Stadt gab es sogar eine Burg. Das war eine richtige Festung mit hohen Mauern, mit einem Turm, einem Brunnen, Häusern und Ställen. Und natürlich Schießscharten, wenn sie angegriffen wurden.
Man konnte sich dann so ein bisschen vorstellen, wie das wohl früher gewesen ist. Huh, gut dass es nicht mehr Wirklichkeit war. Stell dir mal vor, wenn ein ganzes Soldatenheer herankommt mit Waffen und wollen die Stadt angreifen und die Burg erobern. Da konnte viel Schreckliches passieren. Gut, dass es das nicht mehr gibt. Jetzt kann man ganz beruhigt alles angucken. Es ist sogar interessant.
Da sahen sie ein Modell von der Burg. Das interessierte die Kinder sehr. Am meisten allerdings den Kleinen Mann. Warum? Weil er so klein ist, dass er auf dem Modell herumlaufen konnte. Die Kinder konnten die Mauern und den Turm zwar anfassen, denn alles war aus Metall gemacht worden. Kaputt machen konnte man da gar nichts.
Aber der Kleine Mann hüpfte auf dem Platz zwischen den Häusern herum. Er konnte sogar den Turm besteigen. Er hielt eine Hand vor die Augen, als ob er genau gucken wollte. Da schrie er: „Achtung, da kommen die Feinde!“ Er sprang vom Turm herunter und wollte spielen, wie er die Burg verteidigte. Aber er hatte keine Waffen dabei. So sprang er von dem Burgmodell herunter und suchte etwas, das er als Waffe oder Munition gebrauchen konnte. Er fand ein paar Steine und einen Zweig. Das sollten seine Waffen werden. Er fuchtelte mit dem Stock hin und her und rief alle möglichen Befehle so laut er konnte.
Die Leute auf der Burg guckten zum Kleinen Mann. Was war da denn los? Ein Jugendlicher rief. „He, sei mal ruhig, sonst greifen wir noch wirklich die Burg an!“ Da hättet ihr aber mal sehen sollen, wie der Kleine Mann so richtig den Verteidiger spielte.
„Komm nur heran, du Gauner!“, schrie er. Der Junge kam langsam heran. Als der den Kleinen Mann sah, blieb ihm vor Erstaunen der Mund offen stehen. „Was, … was, … wer, … wer ist denn das?“, fragte er verblüfft.
„Ja, hier siehst du den Ritter der Burg. Pass auf, die Feinde erledige ich gleich!“ Der Kleine Mann steigerte sich immer mehr in das Spiel hinein.
Der junge Mann hatte sich inzwischen von seiner Überraschung erholt und spielte mit. „Ja, wie willst du denn die Burg verteidigen? Ich bin doch die Übermacht. Ich mache euch fertig!“, rief er grinsend.
Der Kleine Mann aber war jetzt völlig in Fahrt geraten. Er nahm einen Stein, schleuderte den Arm herum und ließ den Stein fliegen. Er traf den jungen Mann so an der Hand, dass sie anfing zu bluten. Jetzt war es also wirklich ernst geworden.
„Jetzt bist du erledigt!“, rief er. Der Jugendliche sah sich seine Hand an. Jetzt kam auch die Mutter heran. „Was hast du gemacht, Kleiner Mann?“, fragte sie.
„Ich habe einen großen Sieg errungen. Die Burg habe ich verteidigt!“
Bei dem jungen Mann tropfte ein wenig Blut aus der Wunde. Die Mutter sah das und holte aus ihrer Tasche schnell ein Pflaster. Das hatte sie immer dabei, wenn die Familie unterwegs war.
„O Kleiner Mann, jetzt komm mal zurück in unsere Zeit. Verlasse das Mittelalter und entschuldige dich bei dem jungen Mann hier!“, forderte die Mutter jetzt den Kleinen Mann auf.
Der ging sofort hin, kletterte die Hose und den Pullover hoch und sagte: „Entschuldigung!“ Der schüttelte nur den Kopf. So etwas hatte er noch nie erlebt. Und als er den Kleinen Mann an sich hochklettern sah, da dachte er, er träumt.
„Du bist ein toller Hecht!“, meinte der junge Mann zu dem Kleinen Mann. Da sauste der Kleine Mann blitzschnell wieder von den Kleidern herunter, kletterte noch mal auf das Burgmodell, stieg auf den Turm und schrie: „Der Krieg ist jetzt vorbei! Wir sind nicht mehr im Mittelalter. Und ich habe die Burg bis zum letzten Blutstropfen verteidigt!“
Alle mussten lachen, auch der junge Mann. „Tjunge, Junge!“, meinte er zu den Kindern, „der hat vielleicht Nerven, der Kleine! Na, und die Blutstropfen, die waren wohl eher bei mir zu sehen. Bei dem Kleinen habe ich jedenfalls keinen einzigen Blutstropfen gesehen.“
Da gaben ihm alle Recht. Und als die drei Kinder auch noch das Lied vom Kleinen Mann sangen, da schüttelte der Mann nur noch den Kopf und lief den Burgberg langsam hinunter.
Ja, der kleine, kleine Kleine Mann, was der nicht alles kann …